Der Süden Weißrusslands

Zwischen Heldenstadt und Sumpflandschaft

Der belarussische Süden hat viele Besonderheiten und Orte, die ihn von den anderen Regionen des Landes markant unterscheiden und zu einem attraktiven Reiseziel machen.

Wer sich für die belarussische Literatur interessiert, der wird vielleicht an das Epos von Iwan Melesh, "Menschen im Sumpf", erinnern. Im Roman ist die Kollektivierung eines abgeschotteten Sumpflandes meisterhaft beschrieben, wo die Menschen nicht nur mit der neuen Ordnung zurechtkommen mussten, sondern auch seit Generationen mit den Naturgewalten um ihre Daseinsberechtigung ringen. Der Sumpf als Archetyp prägt den Süden Weißrusslands und seine Bewohner. Es gibt weite überschwemmte Landstriche ohne menschliche Besiedlung - einsame Regionen, die allein den Tieren und Pflanzen gehören, unter anderem entlang des Prypjat. Hier erleben Naturfreunde und Tierbeobachter Flora und Fauna in einer Ungestörtheit, die im Westen Europas kaum zu finden ist.

Von den Südbelarussen, vor allem den "Poleschuki" (Einwohner der Region Polesien im Gebiet der Stadt Brest), behauptet man, sie seien ein besonderer Menschenschlag. Ihre Bräuche, ihre Mentalität gelten als außergewöhnlich eigenständig oder sogar ein bisschen archaisch.

Sprachlich gesehen ist der Süden generell und Polesien an sich sehr heterogen. Hier treffen die belarussische, ukrainische, polnische Sprachen aufeinander, daraus ist nach mehreren Jahrhunderten Sprachkontakt die westpolesische Sprache entstanden, die mehrere regionale Dialekte umfasst und nicht nur in Belarus, sondern auch in Teilen der Ukraine und Polens gesprochen wird. Es gab in den 1990er Jahren Versuche, eine kodifizierte überregionale Standardsprache daraus zu schaffen, was jedoch ohne Erfolg blieb. Die massive Verbreitung der russischen Sprache verdrängt die Dialekte, sodass die jungen Menschen nicht mehr so sprechen, wie die Generationen ihrer Vorfahren. Für alle Linguisten, Kenner slawischer Kulturen und Osteuropa Reisefreunde lohnt sich der Besuch dieser Region auf jeden Fall.

Doch was ist im Süden besonders sehenswert? Welche Städte und Orte sind besonders prägend für die Geschichte der Region und des Landes?

Auf der Reise durch Südbelarus darf auf keinen Fall die Stadt Brest fehlen. Die Gebietshauptstadt, die nicht weit von der polnischen Grenze liegt, war immer ein wichtiger strategischer Punkt und ein Industriestandort. Historisch gesehen ist Brest das Symbol des ungebrochenen Willens des belarussischen Volkes im Zweiten Weltkrieg. Die Brester Festung, die im 19. Jahrhundert erbaut wurde, stand vom ersten Tag des Überfalls auf die Sowjetunion im Angriffsfeuer der deutschen Truppen und wurde tapfer verteidigt. Viele Quellen berichten, dass sich die Truppen der Verteidiger der Festung einen Monat lang hielten und sich den Angreifern trotz der erdrückenden Übermacht der feindlichen Soldaten nicht ergaben. Obwohl dieses Ereignis im westeuropäischen Geschichtsdiskurs keinen besonderen Platz hat, ist es entscheidend für die (post)sowjetische Interpretation der Geschichte. Der große Mythos entstand direkt nach dem Krieg und lebt weiter in Geschichtsbüchern und im Leben der Menschen. Ein Beweis dafür ist auch, dass der Gedenkkomplex Brester Festung auf der Liste der meistbesuchten Sehenswürdigkeiten jedes Jahr ganz vorn steht.

In der Nähe von Brest befindet sich der berühmte Nationalpark Belaweschskaja Puschtscha. Das belarussische Nationalsymbol, der Wisent, ist zusammen mit vielen anderen einzigartigen Tier- und Pflanzenarten eine der größten Sehenswürdigkeiten des Parks. Der Park hat auch eine bedeutsame Rolle in der Geschichte der Sowjetunion und der postsowjetischen Staaten gespielt. Hier wurden die Vereinbarungen von Belaweschskaja Puschtscha am 8. Dezember 1991 unterzeichnet, was das Ende der Sowjetunion und gleichzeitig die Gründung der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten war.

Im Brester Gebiet liegt auch eine Stadt, die nach Hrodna (Grodno) die zweite am besten erhaltene belarussische Stadt ist. Pinsk, die inoffizielle Hauptstadt Polesiens, vertritt in mit Äußeren viele Züge dieser Kultur und verzaubert mit ihrer barocken Altstadt. Vor dem Zweiten Weltkrieg war sie außerdem eine der einflussreichen Städte der jüdischen Kultur in Belarus. Der erste Präsident Israels, Chaim Weizmann, wurde bei Pinsk geboren und hat dort eine lange Zeit gelebt.

Auch wenn viele architektonische Sehenswürdigkeiten die Wirren der Geschichte nicht überlebt haben, sind auch deren Ruinen immer noch ein markantes Beispiel der belarussischen Kultur der Neuzeit. Im Brester Gebiet befinden sich die Ruinen zweier prächtiger Paläste in den Kleinstädten Ruschany und Kossowo. Der erste, im 18. Jahrhundert erbaut, weist sowohl klassizistische als auch Barockmerkmale und ist selbst in seinem heutigen Zustand bewundernswert. Der zweite stammt aus dem 19. Jahrhundert und wurde im neogotischen Stil errichtet. Zum Glück hat die Restaurierung der beiden Paläste begonnen, und die nächsten Generationen werden diese Kulturdenkmäler in ihrer voller Pracht erleben können.

Viele Belaruskenner assoziieren Südbelarus natürlich auch mit "Tschernobyl", und in der Tat leidet der Südosten immer noch sehr stark unten den Folgen des Reaktor-GAU. Große Teile der Bevölkerung mussten ihre Heimatorte, die sich in der unmittelbaren Nähe der Grenze befanden und vom Fallout enorm betroffen waren, verlassen. Nach 30 Jahren erholt sich die Region zwar langsam, ist jedoch teilweise für die Öffentlichkeit gesperrt und wird jedoch noch mehrere Jahrzehnte mit den Folgen der Katastrophe kämpfen. Eine Forschungseinrichtung erkundet hier die Auswirkungen der Strahlung und der ausgetretenen Stoffe auf die Umwelt. Vielleicht werden diese Ergebnisse eines Tages für interessierte Reisende informativ aufbereitet und zugänglich gemacht.

Im Südosten, in der Nähe der ukrainischen Grenze liegt die Stadt Gomel. Die Stadt und die Region um sie herum waren von den Folgen der Tschernobyl-GAU am stärksten betroffen. Trotz seiner langen Geschichte, wirkt Gomel, genau wie Mahiljou (Mogiljow), viel "russischer" als beispielsweise Hrodna (Grodno). Auch die religiöse Identität der Region ist stark orthodox geprägt. Die meisten erhaltenen Architekturdenkmäler stammen aus dem 18.-20. Jahrhundert, also aus der Zeit nach der Eingliederung Polen-Litauens in das Russische Zarenreich und schließlich in die Sowjetunion.

Dank seiner geografischen Lage ist Homel (Gomel) ein Eisenbahnknoten und ein großer Industriestandort mit langer Tradition. Das Schlosspark-Ensemble ist die berühmteste Sehenswürdigkeit der Stadt und gehört stilistisch zum Palladianismus (frühen Klassizismus). Graf Pjotr Alexandrowitsch Rumjanzew-Sadunajski ließ den Palast am Ende des 18. Jahrhunderts mit Unterstützung von Zarin Katharina der Großen errichten. Zum Ensemble gehört die neorussische Paskewitsch-Familiengruft – eines der bedeutsamsten sakralen Architekturdenkmäler in Belarus. Der alte Wintergarten mit seinen Tropenpflanzen steht heute für alle Besucher offen.

Daneben ist das architektonische Ensemble ein Heimatmuseum mit verschiedenen Sonder- und Dauerausstellungen. Außerdem befinden sich dort diverse Restaurationsateliers, die der Wiederbelebung des Kulturerbes dienen - nicht nur in der Region, sondern in ganz Weißrussland.

So hat der Süden von Belarus ein vielfältiges touristisches Potenzial, das auf seine Erkundung wartet. Hier trifft der Reisende das besondere Belarus, dessen Hauch für jeden Touristen zu einem einzigartigen Erlebnis wird. Mal rau, mal eigenartig, aber immer authentisch.

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